Es braut sich etwas zusammen...

  • ...im Süden der Provinz Xumen, dort, wo Xinhai, das Gelbe Reich und Sunya zusammenstoßen. Viele Leute haben Verwandtschaft hinter der Grenze oder wenigstens liegen die Gräber der Ahnen dort. Mag man sich auch seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, so weiß man doch um die alten Bande zwischen den Blutsverwandten.


    Die Älteren wollen unbedingt noch einmal die Verwandtschaft sehen, bevor ihre Lebensbahn ihr Ende nimmt, die Jüngeren - nicht weniger brennend - vor allem mal sehen, wie es dort in Sunya und im Gelben Reich aussieht. Längst sind Gerüchte hinübergedrungen, daß dort die Geschäfte immer prall gefüllt und die Menschen sehr wohlhabend oder doch wohlhabender als in Xinhai seien.


    Stets hatte die Partei von der Vereinigung des Vaterlandes gesprochen und die Schuld allein auf den Westen, das Gelbe Reich und Sunya geschoben. Niemand hatte auch nur eine Sekunde lang Anlaß zum Zweifel gegeben – vielleicht auch weil alles so unwirklich schien –, daß man nach der Vereinigung die Landsleute hinter der Grenze besuchen dürfe. Nun aber ist es anders gekommen, der Staat Groß-Chinopien wurde feierlich begründet und bejubelt, aber von den Worten der Partei und den Versprechungen des Großen Führers ist nichts zu bemerken, die Grenze ist dicht wie eh und je. Bei nicht wenigen stößt das sauer auf und führt zu Mißmut.


    Hier, in dieser Grenzregion, strahlen die Rundfunk- und Fernsehprogramme Sunyas und des Gelben Reiches ein. Auch besitzen mehr Leute als im Rest des Landes eigene Radio- und Fernsehgeräte. Die herstellenden Betriebe sitzen schließlich hier in den relativ wohlhabenden und dicht besiedelten Küstenregionen, wurden sie doch von der Partei zuerst industrialisiert, weil die Landwirtschaft die vielen Menschen nicht mehr beschäftigen konnte und man sich hier an der Grenze vor Aufständen fürchtete.


    Mit der Einigung ging auch ein drastisches Abschwellen der Propaganda einher, keiner der drei Bundesstaaten stellt die jeweils anderen offiziell mehr in Frage. So haben die vorher peinlich strengen Kontrollen nachgelassen, ob in den Wohnungen heimlich Sender aus dem Gelben Reich oder Sunya gehört oder gesehen werden. Auch geraten die Kontrolleure immer mehr in die Defensive. Wie sollen sie überhaupt noch begründen, daß man die Sender der Landsleute nicht sehen darf, mit denen man sich doch zu einem Staat zusammengeschlossen hat, geschweige denn jemanden dafür zu Zuchthaus oder Arbeitslager verurteilen zu lassen? Vereinzelte Berichte des Geheimdienstes reden von Kontrolleuren, die des Nachts verprügelt und zum Teil übel zugerichtet wurden, nachdem sie Leuten die Geräte wegnehmen ließen. Andere haben sich lieber auf die Neue Zeit eingestellt, indem sie sich das Wegsehen gut bezahlen lassen.


    So bleibt es nicht aus, daß auch die neueste Meldung aus Sunya und dem Gelben Reich, die die eigene Propaganda totschweigt, wie ein Lauffeuer durch die Gegend geht: Dem ständigen Ausschuß der Chinopischen Nationalversammlung Sunyas wurde ein Vorschlag vorgelegt, die Grenzen zwischen Sunya und dem Gelben Reich zu öffnen.


    Schritte in diese Richtung hatte man sich von der eigenen Regierung seit Monaten und Wochen erhofft, aber nichts dergleichen ist geschehen, im Gegenteil, die höflichen Anfragen an die zuständigen Stellen auf Erlaubnis, die Landsleute hinter der Grenze besuchen zu dürfen, blieben unbeantwortet oder endeten gar im schlimmsten Fall mit Konsequenzen für die Antragsteller. Auch Besuche in umgekehrter Richtung wurden bisher abgesehen von Einzelfällen nicht erlaubt.


    Erst begann es in den Familien zuhause, daß man über die „unschöne Situation“ sprach, das setzte sich über Verwandten, enge Freunde und Bekannte und in den Hausfluren fort. Am Samstagmorgen, dem letzten Arbeitstag der Woche sind diese Gespräche bereits in manchen Betrieben angekommen, wo der bevorstehende freie Tag die Zunge etwas lockerer werden läßt. Einige Leute reden halb im Scherz davon, wie schön es doch wäre, wenn man morgen mal zu den Verwandten rüberfahren und sich dort den Bauch vollschlagen könnte. Der Staatssicherheitsdienst vermerkt in den Berichten, daß vereinzelte Werktätige in erschreckend offener und selbstbewußter Weise eine negative bis feindliche Haltung gegen die gegenwärtige Politik der Partei in dieser Frage einnehmen und die Grenzöffnung als ein Recht ansehen, das man ihnen zu unrecht verweigere. In einem Betrieb stellten Arbeiter sogar dann ihre negativen Gespräche nicht ein, als der Parteisekretär an ihnen vorüberging. An verschiedenen Orten kam zum Ausdruck, daß die Partei ihre Versprechen auch halten müsse.


    Auch an anderen Stellen werden vereinzelt Mißtöne berichtet, so etwa über die Versorgungslage in den Geschäften. Vieles sei nicht verfügbar oder so teuer, daß es sich kaum jemand leisten könne. Frauen hätten geklagt, daß in den Geschäften seit Jahren fast immer nur die gleiche langweilige Kleidung in den selben Farben zu kaufen gäbe und sie sich darin überhaupt nicht gefallen und hübsch aussehen könnten. Fehlende Winterkleidung wird beklagt. Zunehmend werde die mangelnde Qualität und Auswahl des Angebots sowie das Fehlen von Unterhaltungselektronik getadelt, die man inzwischen aus den Medien Sunyas und dem Gelben Reich kennt. Auch wird das Eindringen kapitalistischen Gedankenguts notiert, etwa Äußerungen, daß man mehr verdienen könnte, wenn man mehr selber entscheiden könnte. Im Gegensatz zu dem drängenden Problem der Verwandtenbesuche bleibt das aber vorerst eine Randerscheinung, obschon zu erwarten ist, daß sich das nach den Besuchen schlagartig ändern dürfte, so sie denn genehmigt werden.


    Während die Kritik an der Wirtschaft freilich ein Tabu ist, sieht nahezu jeder die Partei in der Grenzfrage in der Schuldigkeit. Nicht wenige der unteren Funktionäre scheinen sich der Problematik bewußt zu sein und auf Direktiven aus Huangzhou zu warten, die aber nicht kommen. Entsprechend hilflos argumentieren sie, wenn man sie darauf anspricht.

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